„Menschlichkeit muss man lernen und seine Mitschüler durften es an ihm lernen.“
(Grundschullehrerin Frau S.)
Mehr Plädoyer braucht es eigentlich nicht für das Thema Inklusion.
Ein Thema, das den Lehrerinnen Frau S. und Frau J. von der Torwiesenschule in Stuttgart ganz besonders am Herzen liegt.
Frau J. ist Heilpädagogin und unterrichtet seit 2007 an der Torwiesenschule in der Funktion als Bezugslehrkraft für die Schülerinnen und Schüler des SBBZs (sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum) geistige/ motorische Entwicklung.
Frau S. war Grundschullehrerin und ist mittlerweile im verdienten Ruhestand. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als Mutter von 3 Kindern, von denen ihre jüngste Tochter mit dem Down-Syndrom geboren wurde, konnte sie neben ihrer allgemeinen Begeisterung für ihren Beruf auch viele eigene Vorerfahrungen in das Begleiten behinderter Kinder mit einbringen und sieht das Thema Inklusion als ein Herzensthema an.
Vier Jahre lang haben die beiden Pädagoginnen Jonas Lankenau, der an PCH2 erkrankt ist, durch seine Grundschulzeit in der inklusiven Torwiesenschule als Klassenlehrerinnenteam begleitet.
Im Interview erinnern sie sich an diese intensive, herausfordernde, aber vor allem auch lehrreiche und schöne Zeit.
„Zwei zentrale Aspekte für die Umsetzung von Inklusion sind die Grundhaltung der Menschen (Vielfalt als Bereicherung), sowie Ressourcen aller Art.“
(Heilpädagogin Frau J.)
Wie ist der Unterricht in Ihrer Schule organisiert?
Frau J: An der Torwiesenschule besteht eine Klasse aus zwei Lerngruppen: einer aus Schülerinnen und Schülern des SBBZs *GENT* und KMENT* und einer aus Schülerinnen und Schülern, die dem Lehrplan der Grundschule folgen. Die Gesamtklasse wird von einem multiprofessionellen Team unterrichtet.
*(Anm.: SBBZ= sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum; GENT= geistige Entwicklung; KMENT= körperliche und motorische Entwicklung)
Das Konzept des gemeinsamen Lebens und Lernens an der Torwiesenschule beinhaltet sowohl gemeinsamen Klassenunterricht, als auch getrennte Phasen in der jeweiligen Lerngruppe. Welche Fächer wann gemeinsam unterrichtet werden, erarbeitet das Klassenteam.
Faktoren für die Entscheidung, wann und was gemeinsam unterrichtet wird, sind neben inhaltlichen und personenbezogenen Aspekten (individuelle besondere Bedürfnisse von einzelnen Schülerinnen und Schülern mit Behinderung) auch strukturelle Aspekte (Unterrichtszeit, Räume, Ressourcen).
Inzwischen sind wir daran, ein TWS-internes Schulcurriculum zu verfassen, welches es uns ermöglicht, gut geeignete Themen für den gemeinsamen Unterricht zu erkennen und deren Umsetzung verpflichtend und den Vorgaben des jeweiligen Bildungsplanes entsprechend zu verfolgen.
Diese Vorgehensweise ist für mich ein absolut zentraler Gelingensfaktor für ein – auch langfristig – funktionierendes inklusives Schulkonzept. So ergibt sich für jede Klasse ein rhythmisierter Wochenstundenplan mit gemeinsamen und getrennten Unterrichtsphasen. Pausenzeiten, Feste und Feiern, Lerngänge und Ausflüge sowie Schullandheimaufenthalte finden in der Primarstufe in der Regel immer gemeinsam statt.
Wussten Sie zuvor, dass Sie ein PCH2 Kind in Ihrer neuen Klasse haben werden, um welche Erkrankung es sich dabei handelt und wie stark der Schüler beeinträchtigt ist?
Frau J: Ja, ich konnte mich im Vorfeld darüber informieren. Ein vorbereitendes Kennenlerngespräch mit den Eltern und dem begleitenden Pflegeteam war hierfür zentral. Wenn ich mich richtig erinnere, haben meine Kollegin (Physiotherapeutin) und ich Jonas zu Hause besucht, um ihn und sein besonderes Lebensumfeld kennenzulernen.
Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie den Schüler kennengelernt haben?
Frau S: Als meine Tochter noch klein war, habe ich mir einmal eine inklusive Schule in Frankfurt angeschaut. Dort stand mitten im Klassenraum ein Bett für ein schwerbehindertes Kind, das dadurch ganz selbstverständlich jederzeit am Unterricht teilnehmen konnte. Mittendrin sozusagen. Als ich Jonas kennenlernte, dachte ich mir: Das machen wir jetzt genauso, Jonas mittendrin.
Wie konnten Sie Jonas in den Unterricht integrieren und wann/ wo war dies nicht möglich?
Frau J: Jonas war ein fester und wichtiger Bestandteil der Klassengemeinschaft.
Grundlage für die Teilnahme am Unterricht war eine sehr gute medizinisch-pflegerische Versorgung durch das Pflegeteam der Familie Lankenau. War Jonas also physisch und psychisch in der Lage, seine Aufmerksamkeit nach außen zu richten, erhielt er thematisch passende individuelle Lernangebote auf seinem Entwicklungsstand. Seine basale Zugangsweise zu Themen aller Art ermöglichte hier den Kindern ohne Behinderung, sich einem Thema ebenfalls auf sinnlicher Ebene anzunähern, was stets eine Bereicherung für deren Lernprozesse war.
Weiterhin setzten wir viele Hilfsmittel im Bereich der Unterstützten Kommunikation ein, sodass Jonas in möglichst autonomer Form kommunizieren oder eigenaktiv tätig sein konnte (Sprechende Tasten, BIGMACK, PowerLink, später Augensteuerungssoftware und Tobii).
Ein weiterer, sehr großer Aspekt der Teilhabe von Jonas waren sozial-emotionale Faktoren. In dieser Hinsicht war Jonas ein absolut zentrales Mitglied der Klassengemeinschaft. Viele Schülerinnen und Schüler genossen den Körperkontakt zu Jonas sehr, suchten diesen immer wieder und regulierten eigene Anspannung, indem sie Jonas körperlich nah waren. Ebenso konnten wir dieses Phänomen über viele Arten von nonverbaler Kommunikation (Mimik, Augenkontakt etc.) beobachten.
Wie wurden Sie beim Unterrichten des Schülers unterstützt? Hätten Sie sich mehr Unterstützung gewünscht oder war es ausreichend?
Frau J: Die grandiose Unterstützung des Pflegeteams der Familie Lankenau war ein absoluter Gelingensfaktor für das Unterrichten von Jonas – ohne diese Möglichkeit wären wir als Schulteam nicht in der Lage gewesen, Jonas in dieser Art und Weise im inklusiven Setting zu unterrichten.
Frau S: Die gute Zusammenarbeit mit den Eltern war sehr hilfreich. Und das Pflegeteam, welches auf Jonas aufgepasst und ihn umsorgt hat. Zusätzlich waren die Pflegerinnen und Pfleger ein wichtiges Bindungsglied zwischen Jonas, den Schülerinnen und Schülern und uns. Da sie Jonas gut kannten, „übersetzten“ sie teils für ihn, was es den anderen Kindern und uns leichter machte, Jonas zu verstehen und mit ihm in Kontakt zu treten.
Was waren die größten Herausforderungen daran, ein PCH2 Kind zu unterrichten?
Frau S: Es war in der ersten Klasse immer wieder herausfordernd, aus diesem kleinen Wuselhaufen Kinder mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen eine Klasse zu formen. Hier war es toll, dass wir immer zu zweit waren. Frau J. und ich haben uns da sehr gut ergänzt und es in einer Mischung aus guter Struktur und dem Grundgefühl „das wird gut werden“ ganz gut hinbekommen.
In Bezug auf Jonas war ich sehr froh, dass wir die Pflegerinnen und Pfleger, die ihn immer begleitet haben, an unserer Seite hatten. Sie konnten teils „übersetzen“, da sie Jonas sehr gut kannten und gaben mir die Sicherheit, dass ihm im (medizinischen) Notfall geholfen wird.
Was war herausfordernd für die nichtbehinderten Mitschüler?
Frau J und Frau S: Mitzubekommen, wenn es Jonas nicht gut ging, das war sicherlich eine Herausforderung für die anderen Kinder. Auch waren manche Kinder durch die Bewegungen, das Zittern oder auch das vermehrte Speicheln und Husten manchmal verunsichert. Hier half es, mit den Kindern zu sprechen, Fragen und Gefühle ernst zu nehmen und es zu erklären.
Wie hat der an PCH2 erkrankte Schüler von dem Unterricht und dem Miteinander profitiert?
Frau S: Ich hatte das Gefühl, dass Jonas von den anderen Kindern mit „Lebensenergie“ betankt wurde. Er war immer mittendrin, konnte zusehen, zuhören, wurde mit einbezogen. Andersherum gab er eine gewisse Ruhe an die anderen Kinder weiter.
Wie haben die Mitschüler davon profitiert, gemeinsam mit einem an PCH2 erkrankten Mitschüler zu lernen? Und was war für Sie besonders schön daran, Jonas zu unterrichten?
Frau J: Zu beobachten, wie Jonas und sein Dasein das Denken und die Wege der Kommunikation der anderen Kinder erweitert und ihnen Sichtweisen und Kompetenzen eröffnet, die ihnen sonst verborgen geblieben wären. Zu sehen, wie Jonas mit seinen Möglichkeiten am Leben teilnimmt und somit Lebensqualität gewinnt und sein Recht auf Bildung einlöst.
Frau S: Jede einzelne Mitschülerin und jeder einzelne Mitschüler hat profitiert, so wie Jonas von ihnen profitiert hat. Ich habe Jonas immer „unseren Edelstein“ genannt. Menschlichkeit muss man lernen und wo kann sie authentischer gelernt werden, wenn nicht mit einem Menschen wie Jonas.
Ich habe zahlreiche ganz konkrete Geschichten, wie einzelne Kinder durch Jonas zu mehr Selbstwertgefühl, mehr Ruhe, mehr Rücksichtnahme gefunden haben, aber vielleicht kann ich es ein bisschen verallgemeinern: stellen Sie sich ein Kind mit einem geringen Selbstwertgefühl vor, ein Kind, dass das Gefühl hat, nicht zu genügen, nicht „richtig“ zu sein. Dieses Kind hat in unserer Klassengemeinschaft gelernt, dass jeder sein darf, dass jeder genügt.
Wenn Jonas akzeptiert wird, genau so, wie er ist, dann darf auch ich sein, genau so, wie ich bin. Unabhängig von meiner Leistung, meinem Aussehen.
Im Klassenrat haben wir einmal gesammelt, warum die Kinder Jonas als Mitschüler schätzen. Da kamen von Grundschülerinnen und Grundschülern Antworten wie: Jonas lügt nie, er ist immer ehrlich; man muss sich vor Jonas nicht verstellen, man darf sein, wie man ist. Das hat mich beeindruckt.
Jonas hat von uns eine maximal einfühlsame Menschlichkeit eingefordert und wir haben von ihm maximale Menschlichkeit zurückbekommen.
Wie stehen Sie zur Inklusion? Was braucht es, damit diese wirklich ein gutes Konzept für alle Beteiligten wird/ ist? Was sind ihre Grenzen, was ihre Chancen?
Frau J: Inklusion ist ein Menschenrecht. Politik und Gesellschaft müssen Rahmenbedingungen schaffen, dass Teilhabe für alle möglich ist unter Berücksichtigung der jeweiligen individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten. Zwei zentrale Aspekte für die Umsetzung von Inklusion sind die Grundhaltung der Menschen (Vielfalt als Bereicherung) sowie Ressourcen aller Art.
Frau S: Ich habe das Gefühl, dass die Akzeptanz für Inklusion an Schulen stark gelitten hat durch die Art und Weise, wie sie umgesetzt wird. Es ist in meinen Augen eine Illusion, dass jede Schule in der Lage sein kann, gute Bedingungen für Inklusion zu schaffen. Daher bin ich eine große Verfechterin des Konzepts der Torwiesenschule. Es braucht Schwerpunktschulen, die sich das Thema Inklusion auf die Fahnen schreiben, es braucht Personal und Platz. Und es braucht Menschen. Menschen, die etwas gestalten wollen, die dafür brennen.
„Jonas hat von uns eine maximal einfühlsame Menschlichkeit eingefordert und wir haben von ihm maximale Menschlichkeit zurückbekommen.“
(Frau S., Lehrerin von Jonas)