„Ich sehe nur ein normales Kind“
„Mit euch Fußball spielen wird er nicht können, aber euch kräftig anfeuern, das wird er.“
Mit diesen Worten versuchten die Eltern des heute 3-jährigen Tim, seine zwei großen Brüder mit der Erkrankung des jüngsten Familienmitglieds nach dessen Geburt vertraut zu machen.
Die Reaktionen der großen Brüder haben die Eltern nicht nur überrascht, sondern vor allem auch Mut für den nun vor ihnen liegenden Weg gemacht.
„Ich sehe keine Behinderung, ich sehe nur ein normales Kind“, Worte eines damals 8-jährigen. Diese kindliche Sicht auf die Dinge, die einfach offensichtlich sind und die noch nicht alle Eventualitäten der Zukunft mit einschließt, ist unbezahlbar. Und diese Sicht half der nun 5-köpfigen Familie aus der Nähe von Wolfsburg aus der schwierigen Anfangszeit heraus in ein mittlerweile erfülltes und glückliches Familienleben.
Denn schwierig war die Anfangszeit allemal.
Mutter Alina erinnert sich an die Geburt ihres Jüngsten mitten in der Coronazeit: Aufgrund von verschlucktem Fruchtwasser und eines erhöhten Muskeltonus kam der kleine Tim direkt auf die Intensivstation. Das Trinken fiel ihm schwer und gelang nur mit viel Geduld. Die Entlassung aus dem Krankenhaus erfolgte aber zunächst ohne Diagnose. Die Sorgen und Vorahnungen der Eltern, die durchaus merkten, dass Tim sich anders entwickelte als die großen Geschwister wurden zunächst abgetan und nicht ernst genommen. Der Hartnäckigkeit der Eltern und einer aufmerksamen Chiropraktikerin war es dann zu verdanken, dass im Alter von 4 Monaten ein MRT durchgeführt und die Diagnose gestellt wurde.
Tims Mutter beschreibt diese Anfangszeit im Nachhinein als die prägendste Zeit ihres Lebens. Aufgrund der damals geltenden Coronamaßnahmen durfte selbst der Vater nicht zu dem neugeborenen Tim ins Krankenhaus kommen. Das Gefühl des Alleinseins mit einem anfangs sehr viel schlafenden, dann zunehmend viel weinenden Kind war übermächtig. Die Ängste und Sorgen um das kleine Baby, fehlendes Verständnis von Seiten anderer Patienten und des medizinischen Personals und eine wenig einfühlsam überbrachte Diagnose taten ihr Übriges.
Kein Boden unter den Füßen
Das Gefühl, das blieb, war, dass der Boden einem buchstäblich unter den Füßen weggezogen wurde.
Wenn da kein Boden mehr unter den Füßen ist, müssen die nächsten Schritte vorsichtig und klein sein. Aber woher den Mut und die Kraft für diese ersten Schritte nehmen?
Erste Schritte
Mit der Diagnose fanden Alina und ihr Mann über das PCH-Forum den Kontakt zu anderen betroffenen Familien. Dieser Kontakt war ihnen eine große Stütze und auch eine unmittelbare Hilfe für Tim durch den Austausch, beispielsweise über Medikamente und Hilfen.
„Ich sehe nur ein normales Kind“, mit diesem Satz wurde Tim von seinen Brüdern in der Familie aufgenommen und dieser Satz half der Familie ihren Weg zu finden und zu gehen.
Aus den anfänglichen Gedanken von „unser Leben wie bisher ist jetzt vorbei“ wurde ein „wenn nicht jetzt, wann dann“.
So reist Tim mittlerweile mit seiner Familie um die halbe Welt, war bereits ganz oben auf dem Eiffelturm in Paris und musste gemeinsam mit den übrigen Männern der Familie eher der Mama Mut zusprechen, überhaupt mit hoch zu kommen. Die Familie tourte bereits mit dem Wohnmobil an der Ostsee, Tim genoss das stete Schaukeln auf einem Hausboot und er flog mit der ganzen Familie nach Sardinien. Diese gemeinsamen Reisen genießt die Familie sehr und sie schweißen zusammen, schaffen Erinnerungen, machen stolz.
Be- und Entlastungen
Das Tragen, meint Alina, wird zunehmend zur Belastung; ihn nicht einfach mal schnell zum Einkaufen oder an den Spielfeldrand beim Turnier der Fußballer der Familie mitnehmen zu können. Unterstützung kommt von der Oma und ehrenamtlichen Helferinnen vom Kinderhospiz. Zusätzlich geht Tim mittlerweile in einen heilpädagogischen Kindergarten.
Ängste über das Morgen versucht Alina zu verdrängen. „Wir wissen nicht, was morgen ist, wir wissen nur, was Hier und Jetzt ist“ und aus dem versuchen sie das Beste zu machen.
Familienleben pur
Aus diesen Gedanken schöpft Alina Kraft für ihr Familienleben. Ein Familienleben zwischen 2 Jobs, zwischen 3 Kindern, zwischen Reisen, kleinen Auszeiten als Paar oder mal mit den zwei großen Jungs beim Anfeuern des Lieblingsvereins im Stadion, zwischen Treffen mit Freunden und Übernachtungsparties.
Tim ist gerne mittendrin, alleine sein findet er weniger spannend, aber er ist den Trubel ja auch von klein auf gewöhnt und ältere Geschwister sind sicherlich die besten Ergotherapeuten, Logopäden und Co.
Dass sich ihr Leben im Nachhinein wenig verändert hat, scheint auch der Offenheit, mit der die Eltern Freunden und Bekannten gegenüber mit der Diagnose umgegangen sind, zu verdanken .
„Ich habe eine Mail an alle geschrieben, in der ich alles erklärt und ganz offen um Verständnis und Rücksichtnahme in der Anfangszeit gebeten habe. Ich habe aber auch klar formuliert, dass wir anschließend nicht in Watte gepackt werden wollen, sondern „weiterhin ganz normal sind“ und so ist es auch gekommen.
„Man kann auf jedem Niveau glücklich sein“
Verändert hat sich die Familie trotzdem. „Unser Tim ist das schwächste Glied in der Kette und hat uns doch zu den stärksten Menschen gemacht. Er hat uns sehr viel Mut gegeben“, so beschreibt es Tims Mutter. „Man kann auf jedem Niveau klagen, aber auch auf jedem Niveau glücklich sein.“
Zu sehen, wie toll die älteren Geschwister mit Tim umgehen und wie auch sie sich durch die Erkrankung des jüngsten Sohnes verändern; wie sie zu sehr sozialen und verständnisvollen Kindern heranwachsen, die Dinge differenziert und offen betrachten, rührt Alina und macht sie stolz.
„Ich sehe keine Behinderung, ich sehe nur ein normales Kind“, das waren die Worte des ältesten der drei Brüder. So war es und so ist es. Tim hat PCH2, Tim wird nicht Fußball spielen, aber Tim ist mittendrin. Er nimmt teil und ist Teil einer Familie, die ihn liebt und unterstützt.
„Danke Tim, dass du uns noch mehr die Augen für das Wesentliche im Leben geöffnet hast.“
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